Kleine Warnung an der Stelle: Hier geht es ums erste Kapitel eures Buches, nicht um Prologe und all solchen Kram.
Dementsprechend hi. Ich bin’s mal wieder.
Heute geht es um das erste Kapitel eurer Geschichte, wie gesagt. Nun gut.
Ich weiß, ich weiß, das erste Kapitel ist absolut furchteinflößend, selbst mir schlottern hier vorne die Knie und ich habe mein erstes Kapitel schon längst geschrieben! (Erinnert mich bloß nicht daran, dass ich das noch überarbeiten muss.)
Auf jeden Fall kenne ich durchaus das Gefühl, wenn man vor dem ersten Kapitel steht und jede einzelne Zelle des Körpers von Überforderung durchströmt wird. Ist extrem uncool. Deshalb bin ich heute mal wieder für euch da und bringe euch sämtliche Tipps, die ich, während ich mein erstes Kapitel geschrieben habe, entweder angewandt habe oder dringend gebraucht hätte. Aber dafür ist die Editing-Phase ja da, ne? Oh Gott.
Perfektion ist eine Lüge und eure Götter lachen über euch
Ehrlich. Die sitzen gerade im Olymp, schlürfen ihren Nektar und grölen sich die Seele aus dem Leib. Tut mir ja auch leid, aber sobald ihr meine folgenden Worte in euch aufnehmt, werden sie sicherlich aufhören:
Es gibt so etwas wie Perfektion nicht. Und selbst wenn es sie gäbe, müsstet ihr sie mit eurem ersten Kapitel nicht erreichen.
So. Vielen Dank.
Auch ich war einmal da. „Ich kann mein Buch nicht anfangen, das erste Kapitel ist viel zu schwierig, das muss doch perfekt werden!“
Nein, Vergangenheits-Ich, das muss es nicht. Das erste Kapitel ist letztendlich auch nur eins der vielen Kapitel eurer wunderbaren Geschichte. Klar, es heißt ständig „Wenn euer erstes Kapitel den Leser nicht fesselt, wird kein Verlag euch annehmen!“ und das ist auch irgendwo wahr, aber leider veranlasst diese Art Denken junge Autoren häufig dazu, das erste Kapitel komplett anders zu gestalten als den Rest des Buches, weil sie so aufgeregt sind. Ich spreche hier von einem ganz anderen Schreibstil, verstellten Charakteren, die sich im zweiten Kapitel ganz anders benehmen, seltsamen Handlungssträngen und vielem mehr.
Leute. Macht doch sowas nicht. Fangt nicht anders an, als ihr weiterzumachen plant. Stellt euch mal vor, ihr verstellt euren Schreibstil für das erste Kapitel komplett und das schreckt eure Leser ab! Das wollen wir nicht.
Ihr müsst begreifen, dass das erste Kapitel zwar wichtig, aber auch nur ein Kapitel ist. Später wird das, wie alles andere, so oder so noch einige Male überarbeitet. Macht euch keinen Kopf. Selbst wenn ihr noch kein ideales erstes Kapitel hinlegen könnt, euer Zukunfts-Ich, das schon ein ganzes Buch geschrieben hat, kann das ganz bestimmt.
Oh, und wo wir gerade bei Perfektion sind, die übrigens immer noch nicht existiert: „Wie kriege ich einen perfekten ersten Satz hin? Der ist doch das Entscheidende!“
Nein, das ist er nicht. Ich habe ernsthaft gerade die Anfänge mehrerer (unter anderem) fantastischer Bücher aufgeschlagen, um das zu überprüfen, und der erste Satz war wirklich selten auch nur erwähnenswert. Sollen wir uns mal ein paar angucken?
Das Bildnis des Dorian Gray, Oscar Wilde:
„Das Atelier war von starkem Rosenduft erfüllt, und wenn der leichte Sommerwind die Bäume des Gartens hin und her wiegte, strömte durch die offene Tür das schwere Aroma des Flieders oder das zartere Parfum des Rotdorns.“
Reichlich lang, nicht? Und das ist jetzt ernsthaft nichts gegen Oscar Wilde, in diesem Haus lieben wir Oscar Wilde, aber inwiefern boxt dieser – wenn auch sehr schöne – Satz den Leser in die Geschichte rein, so wie erste Sätze das doch eigentlich machen sollen? Na gut, das Buch mag jetzt auch von 1890 sein, aber ihr versteht, was ich meine. Würdet ihr das hier jetzt aus der Hand legen, nur weil der erste Satz so nichtssagend ist? Vermutlich nicht.
Bis(s) zum Morgengrauen, Stephenie Meyer:
„Meine Mutter fuhr mich mit heruntergelassenen Scheiben zum Flughafen.“
Wow. Okay, Twilight mag jetzt nicht das beste Beispiel sein, um zu beweisen, dass auch gute Bücher mit einem schwächeren ersten Satz anfangen können, aber dieser Satz könnte aus jedem Buch sein. Na gut, nicht jedem, Der Herr der Ringe beginnt wohl kaum mit Flughäfen, aber ihr versteht, was ich meine. Das Buch hätte nach diesem Satz auch voll einen raushauen und uns alle in seinen Bann ziehen können! Was ich sagen will: Sowohl gute als auch nicht ganz so gute Bücher können entweder mit fantastischen oder auch mit langweiligeren ersten Sätzen anfangen.
Warcross, Marie Lu:
„Es ist verdammt noch mal zu kalt für eine Jagd.“
Touché, der Satz erzählt uns zumindest ein bisschen was über Emika als Charakter („verdammt“) und darüber, dass es in dieser Welt scheinbar „Jagden“ gibt. Das will ich auch gar nicht abstreiten. Aber an sich ist dieser Satz jetzt nichts, wo ich mir gedacht habe „BOAH, DAS BUCH MUSS JA DER HAMMER SEIN“.
Das Buch war letztendlich der Hammer, aber das hat dieser Satz mir jetzt nicht unbedingt verraten.
Bartimäus: Das Amulett von Samarkand, Jonathan Stroud:
„Die Temperatur im Zimmer sank rasch.“
Der Tag, an dem ich Jonathan Strouds Schreibstil kritisiere, ist der Tag, an dem ich aufhöre, ein Mensch zu sein, aber wenn man sich diesen ersten Satz mal so anguckt, ganz unabhängig vom Rest der ersten Seite, die übrigens absolut wunderbar ist, dann fällt auf: So mega fesselnd klingt das jetzt nicht gerade. Würde man ein Buch wirklich nur anhand des ersten Satzes bewerten und es sofort weglegen, wenn der nicht das Spannendste und Fantastischste ist, was man je gelesen hat, dann wäre Bartimäus eventuell raus. Und man will Bartimäus nicht nicht lesen.
Letztendlich sind wir dem Universum egal, David Levithan:
„Ich werde wach.“
An sich klingt das wie die wohl schlechteste Art und Weise, wie man ein Buch anfangen kann: Mit dem Protagonisten, der aufwacht? Wie oft haben wir das schon gelesen? Wie oft mussten wir uns durch langweilige Aufwach-Kapitel quälen, weil der Autor uns unbedingt dreihundert Szenen lang zeigen wollte, wie das normale Leben des Charakters aussieht?
Wir sind uns also einig, dass dieser Satz alleine uns noch nicht gefesselt hat. Aber dann liest man weiter: „Und muss auf der Stelle herausfinden, wer ich bin.“
Das ist es, was ich fesselnd nenne! Was geht hier ab? Warum weiß unser Protagonist nicht, wer er ist? Wieso ist es so wichtig, dass diese Person sofort herausfindet, wer sie ist? Und wie überhaupt?
Was ich hiermit sagen will: Ja, euer erstes Kapitel ist wichtig. Ja, euer erster Satz darf sehr gerne spannend und interessant sein. Ja, es ist sehr vorteilhaft, die Leser zumindest am Ende der ersten Seite an der Angel zu haben. Aber ihr habt so viel Zeit und Platz, um die Leser wirklich für euch zu gewinnen. Und um euch zu sagen, wie ihr das anstellt, bin ich ja hier.
Euer Protagonist
Es soll ja Leute geben, die ihr erstes Kapitel ohne ihren Protagonisten schreiben. Was zur Hölle. Macht das nicht, außer ihr habt den genialsten Plan der Menschheitsgeschichte. (Den ihr vermutlich nicht habt. Tut mir leid.)
Euer erstes Kapitel ist unter anderem dazu gedacht, den Lesern euren Hauptcharakter vorzustellen. Seine Wünsche und Ziele, seine Hoffnungen, seine gewöhnliche Lebenssituation, die ihr ihm dann so schnell wie möglich unter den Füßen wegreißt. All sowas.
Als Autor ist es immer euer oberstes Ziel, dass ihr die Leser irgendwie dazu bringt, eurem Protagonisten die Däumchen zu drücken und ihn bei dem anzufeuern, was er halt gerade so erreichen will. Dazu müssen sie den Charakter aber erstmal kennen lernen und verstehen, was er so hat und was er haben will.
Aber: Show, don’t tell. Sagt uns nicht „George wollte schon immer gerne Richter werden“, zeigt uns stattdessen die Hunderten Ordner mit Jura-Kram, die in Georges Wohnung herumfliegen. Lasst ihn mit anderen Charakteren aufgeregt über die super wichtige Prüfung reden, die ihn bald erwartet. Zeigt uns die Leidenschaft, die er für diesen Wunsch hat.
Außerdem ist es immer von Vorteil, wenn ihr euren Protagonisten nicht zum größten Waschlappen der Welt macht. Nur so als Randnotiz. Und ich meine damit nicht, dass ihr keine Underdog-Geschichten schreiben sollt.
Ein guter Protagonist hat einen Willen, er will irgendetwas erreichen und kämpft dafür. Auch Underdogs. Besonders Underdogs! Aber niemand will eine Geschichte über jemanden lesen, der die ganze Zeit nur komatös in der Ecke liegt und sich selbst bemitleidet.
Aber wo fange ich an?
Das ist durchaus eine schwierige Frage. An welchem Punkt der Handlung solltet ihr eure Geschichte zu erzählen anfangen? Wie viel Vorwissen braucht der Leser, um sie richtig zu verstehen?
Profi-Tipp: Gar keins.
Fangt eure Handlung am Anfang der Handlung an. So nah an dem Punkt, der die ganze Sache einleitet, wie möglich. Na gut, es ist auch vorteilhaft, dem Leser kurz zu zeigen, wie das Leben eures Charakters für gewöhnlich ist, weil ihr dadurch leichter zeigen könnt, inwiefern das auslösende Ereignis dieses Gewöhnliche in die Tonne tritt, aber wenn ihr mit dem Protagonisten anfangt, wie er aufwacht und sich für die Schule fertigmacht und dann diesen kompletten Schultag zeigt, an dem nichts passiert, komme ich persönlich zu euch nach Hause und lösche euer Manuskript. Danach hole ich es zwar wieder aus dem Papierkorb, aber ich lasse euch das ganze Ding in einer Sitzung nochmal neu schreiben.
In den meisten Büchern findet das auslösende Ereignis im ersten oder zweiten Kapitel statt, in manchen sogar schon im ersten Satz. Ich persönlich halte es für sinnvoll, im ersten Kapitel erst einmal das Problem anzusprechen, vor dem unser Protagonist steht, und dann kurz darauf seine Entscheidung, sich diesem Problem anzunehmen, zu schreiben.
Ihr kriegt das schon hin. Wenn ihr immer noch nicht wisst, wo ihr anfangen solltet, fragt euch einfach „Was ist der am wenigsten langweilige Punkt, an dem ich beginnen könnte?“ und nehmt im Zweifel den. Ansonsten bin ich selbstverständlich auch gewillt, Beratungsgespräche zu führen. So allgemein wie hier ist das doch eher schwierig.
Wie steht’s mit der Exposition?
Die simple Antwort: Meide unnötig hohe Mengen Exposition, besonders im ersten Kapitel. Aber auch generell.
Die etwas ausführliche Antwort:
Es ist sehr wichtig, dass die Leser verstehen, was im ersten Kapitel abgeht. Wenn man etwas liest und konstant nur verwirrt ist, weil man zum Beispiel gar nicht weiß, wo der Charakter sich gerade befindet oder sowas, dann ist man natürlich eher dazu geneigt, das Buch wieder wegzulegen und sich lieber ein anderes zu nehmen.
Das gilt natürlich nicht für solche Situationen, in denen auch euer Protagonist verwirrt in die Geschichte hineinstartet. Aber wenn ihr den Lesern wichtige Informationen vorenthaltet, die eure Charaktere haben, ist das ziemlich frustrierend.
Zeigt, wo eure Geschichte beginnt, wann sie beginnt und wie sie beginnt.
Aber dann gibt es natürlich auch noch das Gegenteil von zu wenig Exposition…
„Hallo! Mein Name ist Luna Cthulhulesmênda’Achrxa und das hier ist meine Geschichte. Ich lebe in der Welt T’Chûsmånthlùtlsc’ra, im Land X’xq§y’Vôéxy, mit meiner Familie. Ach ja, hier ist außerdem noch der gesamte Stammbaum besagter Familie. Und dazu noch einmal unser vollständiges Magiesystem, schön ordentlich notiert mit Fußnoten.“
Erstens: Ew. Zweitens: Abgesehen von der simplen Szenenbeschreibung und unverzichtbarer Exposition gehört in euer erstes Kapitel nur spannender Kram. Die Erklärung eines Magiesystems ist nicht spannend.
Die Exposition baut ihr in eure Geschichte ein, sobald sie relevant wird. Wenn im ersten Kapitel keine Magie praktiziert wird, müssen wir auch nicht wissen, warum es LeviOsa heißt und nicht LeviosA. Wenn der Stammbaum des Hauptcharakters über den Verlauf der Geschichte nicht relevant wird, müssen wir ihn auch nicht kennen. Boom, simpel.
Ach ja, apropos Exposition: Ich weiß nicht, wie oft ich inzwischen schon die Regel „Show, don’t tell“ erwähnt habe, aber gerade im ersten Kapitel ist sie besonders wichtig. Ihr wollt den Lesern die Geschichte zeigen, ihr wollt ihnen eure Welt und eure Charaktere zeigen, ihr wollt ihnen gerade hier eigentlich nichts einfach so erklären.
Erklärungen sind nicht interessant. Lasst den Protagonisten nicht mit seinem Vater interagieren und schreibt dann „Sie hatten eine gute Beziehung zueinander“.
Zeigt ihre Beziehung zueinander, wie sie sich necken und was für Insider-Witze sie möglicherweise haben.
Zum Abschluss: Macht euch nicht verrückt.
Gebt einfach acht darauf, dass ihr eure Leser möglichst nicht langweilt. Das erste Kapitel ist dazu da, aufregend zu sein, damit ihr die potentiellen Leser auf eure Seite zieht, aber da ich mal davon ausgehe, dass eure Geschichte spannend ist, müsst ihr sie theoretisch einfach nur aufschreiben und schon haben wir das. Ihr könnt das erste Kapitel später so oft überarbeiten, wie ihr wollt. Keine Sorge.
Eine Zusammenfassung für Besucher der vierten Terrasse des Läuterungsberges
- Perfektion ist nicht echt und generell nichts, was ihr anstreben solltet
- Wenn ihr euch zu sehr stresst, könnte das euren Schreibstil und andere Dinge negativ beeinflussen
- Auch das erste Kapitel wird noch einige Male überarbeitet
- Der erste Satz ist nicht so wichtig, wie ihr denkt
- Euer Protagonist
- Stellt im ersten Kapitel euren Protagonisten vor
- Zeigt den Lesern seine Wünsche und Ziele, aber auch einen Ausschnitt seines normalen Lebens
- Bringt die Leser so schnell wie möglich dazu, euren Protagonisten zu mögen
- Wo anfangen?
- So nah am auslösenden Ereignis wie möglich
- Sonst ist’s halt langweilig. Sorry.
- Die Exposition
- Notwendige Exposition (wie zum Beispiel die Szenenbeschreibung) gehört definitiv dazu
- Exposition, die am Anfang noch nicht relevant ist, muss auch nicht erwähnt werden
- Das erste Kapitel ist nicht dazu da, den Lesern euer tolles Worldbuilding zu zeigen
- Show, don’t tell: Lasst die Leser den Anfang eurer Geschichte erleben, erklärt ihn ihnen nicht einfach nur